Kleine Bühne im EXIL
Kabarettchansons als Form des geistigen Widerstandes
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 begann auch die größte Flucht von Kulturschaffenden, die Deutschland je erlebt hat.
Das Chansonkonzert gegen das Vergessen erinnert an Künstlerinnen und Künstler des Kabaretts, deren Leben und Wirken von Schicksalen des Exils gezeichnet war. Ihre Zeitlieder spiegeln auch eine angestrebte neue Stellung der Frau in der Gesellschaft wieder. Die Kabarettgeschichte wurde besonders auch von Frauen geschrieben. Als die ideologische Verblendung und Ausgrenzung diese Perspektiven dann gewaltsam erstickten, waren Frauen maßgeblich an der Entwicklung der Chansonkunst zu einer Form des geistigen Widerstandes beteiligt.
Jüdische Kleinkünstler und Kabarettstationen Zwischen Heimat und Exil
Die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und die deutsch-jüdische Geschichte im besonderen ist mit der Musik- und Kulturgeschichte der internationalen, europäischen und deutschen Chansonkunst engstens verbunden. Es besteht eine breitgefächerte Vernetzung über die Deutschland umgebenden europäischen Nachbarstaaten mit ihren Kleinkunstzentren Paris - Berlin - Wien - München - Prag - Budapest, bis hin in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Auf den Spuren der verb(r)annten Denker, exilierten Schriftsteller, Musiker und interpretierenden Künstler aus der Zeit des Nationalsozialismus sind die von ihnen geschaffenen Chansons, Lieder und Songs beispielhafte Katalysatoren der Geschichte und der Gegenwart.
Die "RuhrChansonnale" bietet die Chance, die vergessenen oder nicht hinreichend beachteten Lebensgeschichten ungezählter Texter, Komponisten und Interpreten über ihre Kunstwerke in Erinnerung zu rufen und neu zu entdecken.
Hinter dem widerspenstigem Wort "Schang-Song" verbirgt sich die kleine Kunst der angewandten Lyrik gepaart mit der Vortragskunst der drei kurzen Liedstrophen, in die man die vollständige Ausdrucksskala eines Menschenlebens hineingeben kann. Entstanden ist diese Kunstform in den literarischen Cafés, den Dichteleien, Orten, wo man Wissen austauschte, wo sich Privatleben und kollektives Schicksal vereinten. Diese Dichteleien existieren heute nicht mehr. In der Geschichte der Literatur und des Chansons nahmen diese Cafés und Cabarets aber einen besonderen Raum ein.
Die Wiege dieser Kunst auf der kleinen Bühne stand in den Kaffeehäusern, aus denen sich die Frühform des Gesangscafés entwickelte. Das erste Café Chantant wurde in Paris gegründet. Exakt im Jahr 1731 trat im Café des Avengles, das sich im Keller des Café Italien (Palais Royal) befand, die berühmte Rosalba auf, die jeden Tag bis um Mitternacht die Gäste zu unterhalten wusste. Das öffentliche Singen in den Cafés traf im chansonfreudigen Paris auf fruchtbaren Boden. Das Kaffeehaus wurde zur Heimstatt der wie aus dem Boden schießenden Chansongesellschaften, die sich hier zusammenfanden, um ihrer Sangeslust freien Lauf zu lassen. Es entwickelte sich eine Subkultur der Intellektuellen, der sich gegenseitig anziehenden Individualisten. Diese Boheme nutzte den sozialen Rahmen dieser Literaten-Cafés für ihren Drang in die Öffentlichkeit.
In den drei Jahrzehnten von 1870 bis 1900 erreichten ihre Dichtungen ein breites Publikum. Es bildete sich das "caf-conc" heraus, das in größeren Räumen stattfand, wobei das Chanson dominierte. Besonderes Niveau erreichte das Pariser Café-Concert mit den künstlerischen Darbietungen einer Eugénie Buffet und der Begründerin des modernen Chansons Yvette Guilbert, sowie Aristide Bruant, der das aggressiv-antibürgerliche "naturalistische" Chanson kreierte.
Die Café-Podien setzten auf Spontanität und kamen ohne Dekorationen aus. Im fließenden Übergang zum Nummernprogramm der Kabaretts und der Café-Konzerte prägten sie im ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich und bald auch in Europa eine ganze Kulturepoche.
Die Künstler machten aus gewöhnlichen Cafés ihre Kultstätten, in denen sich eine neue Lebensphilosophie und Kreativität ausbreitete.
In Deutschland entwickelte sich aus den Dichteleien ab 1890 das intellektuell literarische Kabarett mit seinem begrenzten Theaterraum und einer intimen Wirkung, die alsbald die künstlerisch stilistischen Merkmale, den Kammerstil des deutschen Chansons, bestimmten. Beeindruckende Darbietungen auf Podest und Bühne riefen pure Momente einer visionären Entrückung hervor. "Zuweilen sehe ich nichts im Café", notierte der Kosmopolit Hermann Kesten, "zuweilen mit einem Blick mehr als andere in einer Stunde. Es ist meine Welt, mein Schreibzimmer, mein Acker."
Von magischen Gesängen können Berührungen ausgehen, die abgedunkelte Ecken im schöpferischen Gehirn blitzartig erhellen. Die Schatten des Fremden, früh verbannte Erfahrungen, huschen durch ein Bewusstsein, das die Begegnung der unerklärlichen Art erlebt.
In den Cafés, Kabaretts und Kneipen wurden Gedichte, Chansons, Romane und Manifeste verfasst, Meinungen lanciert und Kunstmoden entfacht. Die Großstadtnomadin Else Lasker-Schüler verwandelte das Berliner Café des Westens in einen bunten Basar wie aus Tausend und einer Nacht. Sie pflegte ihre Gedichte und Vorträge mit dem Pseudonymen "Prinz von Theben" oder "Schwan Israels" zu signieren. Beifall spendete ihr der Schauspieler und spätere Regisseur Max Reinhardt, der im nahen Kabarett Schall und Rauch auftrat, das er selbst mitbegründet hatte. Der von Kurt Hiller gegründete Neue Club, zu dem die Lyriker Georg Heym, Jakob van Hoddis und Ernst Blass gehörten, traf sich im Nollendorf-Kasino und trat 1910 als Neopathetisches Cabaret an die Öffentlichkeit.
In Wien gelten das Griensteidl und das Central als Treffs der Boheme, in München das Café Stefanie. Alle wichtigen Bohemetreffs in den deutschsprachigen Ländern wurden irgendwann einmal "Café Größenwahn" genannt, weil neben der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit vermehrt auch Künstlermanifeste und –aufrufe entworfen und diskutiert wurden. Eines der folgenreichsten war das 1909 in Paris veröffentlichte Futuristische Manifest von Filippo Marinetti. Eine große Wirkung entfachte das soziopolitische Programm dann besonders in den Künstlercafés im revolutionären Moskau. In den Jahren ab 1916 waren dort die Treffpunkte der Avantgarde das Café Domino, das Café Pegasusstall und das bekannteste von allen, das Poetencafé, in dem Wladimir Majakowski die Futuristen um sich versammelte.
Ein solches Café hat man sich als typisch russische Stolowaja vorzustellen: ein einfacher Raum, Stühle und Tische. Alles nur auf das notwendigste beschränkt. Den kleinen Saal des Poetencafés zierten groteske Malereien und nicht minder groteske Inschriften.
In der Brettl-Beize, dem Cabaret Voltaire in Zürich, erblickte 1916 die Kunstrichtung des DADA das Licht der Welt. Mitten im ersten Weltkrieg spielte der europäische Geist, ein flüchtiges Häuflein armer Exilanten um Hugo Ball in Zürich, zur Sensen-Polka auf. Hugo Ball war der bedeutendste Vertreter des Dadaismus. Er hatte in Deutschland den Wehrdienst verweigert und musste deshalb mit seiner späteren Ehefrau, der Cabaret-Künstlerin Emmy Hennings, in die Schweiz fliehen. Emmy Hennings war selbst auch Dichterin und mit dem "Prinz von Theben" Else Lasker-Schüler befreundet. Im Cabaret Voltaire sang sie das Lied "Totentanz 1916" von Hugo Ball.
Nach dem schrecklichen Krieg, der Europa gepeinigt und in seinen Grundfesten erschüttert hatte, durchdrangen neue politische Entwicklungen die europäischen Literatencafés. Die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts machen den eigentlichen Mythos der Chanson-Cafés und Kabaretts aus. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seines festgefügten Wertesystems wird Berlin zu einem großen Experimentierfeld für alternative Lebensstile und neue Leitbilder. Der Wandel gleicht einem Geschwindigkeitsrausch. Die Emanzipation der Frau und damit eine Angleichung der Geschlechter schreitet voran. Das zeitgenössische Kabarett kommentiert atemlos den Zeitenwandel und seine Widersprüche.
Die Dichter schrieben für das Kabarett: Joachim Ringelnatz, Walter Mehring, Bert Brecht, Kurt Tucholsky. Das moderne Mysterienspiel fand jetzt in Künstlerbrettl'n wie dem "Cabaret Größenwahn" der Rosa Valetti und der "Wilden Bühne" der Trude Hesterberg statt. Aus der keck-improvisierten Lässigkeit dieser Kleinkunstspektakel kristallisierte sich das literarische Chanson im deutschsprachigen musikalischen Kabarett heraus.
Die deutsche Literatur erlebte von 1927 bis März 1933 einen Höhepunkt und war zu jener Zeit freier als je zuvor. Die Königin der literarischen Cafés war in Berlin das "Romanische Café". Hier traf sich die Avantgarde und die Vertreter des Expressionismus. So hatte sich das "Romanische" auch den Beinamen "Wartesaal des Genius" erworben. Ein Lied Willi Kollos beschreibt mit tief empfundener Nostalgie das literarische Klima, das einen umfing, sobald man jene Künstlerbörse betrat, in der die Literatur eine so große Rolle spielte.
Damals im Romanischen Café
Wir saßen stundenlang bei einem Glas Tee
Beiden gings uns damals ziemlich schlecht
Wir lebten nur von Pump, Kurt Weill
und Bert Brecht.
Es schrieb an seinem Marmortisch
aus Prag der Egon Erwin Kisch
den rasenden Reporter
Durchs Café ging der Kortner
Homolka spielte oben Schach
Die Mosheim blieb verzweifelt wach
Friedell saß bei dem Anton Kun
Tucholsky setzte sich dazu
Es klingt wie eine Sage – uralt vergangener Tage
Damals im Romanischen Café
Auch in Wien lebte die Kunstwelt mehrere Stunden am Tag im Kaffeehaus.
Im Februar 1926 bringt der Librettist der Operettenklassiker von Franz Lehar und Paul Abraham, Fritz Löhner-Beda, in der Zeitschrift die BÜHNE einen Querschnitt rund um die Uhr durch den Tagesablauf dieser Institution:
"Im Central sitzen die Literaten und solche, die es noch werden möchten. Im Herrenhof amtierte die Journalistik. Im Dobner haust der Film und im Sacher das Theater."
Im Stockwerk des Sacher gibt es Jazz zum 5-Uhr-Tee, im Café Splendide täglich Konzert mit einer Salonkapelle, in der Renaissance Bar einen Zigeunerprimas.
Die Gäste haben eine eigene Sprache zur Verständigung mit den Kellnern: "Du waßt schon" (was einen gespritzten Schwarzen bedeutete) oder auch "So wie gestern". Die Atmosphäre wird mit den letzten Witzen und neuestem Spaß gewürzt. Operetten werden geboren, Revuen aufgebaut, Ideen für Libretti gelesen, Schlager erzeugt, Engagements getätigt. Um 6 Uhr wird's prominent: Kalmann kommt mit einem Librettisten. Gegen halb 8 wird es stiller. Die Theater beginnen.
Als das labile Gleichgewicht der Weimarer Republik zunehmend von linken und rechten Extremisten empfindlich gestört wurde, spitzte sich in Deutschland eine chaotische Situation schmerzlich zu. Für den liberalen Geist bedeutete die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten einen schweren Schlag. Die gesamte jüdische Intelligenz sah sich gezwungen, in die Emigration zu gehen. Das Ende dieser in der Kunst- und Literaturgeschichte gefeierten Epoche der zwanziger Jahre beschreibt der Schriftsteller Wolfgang Koeppen: "…wir sahen das Kaffeehaus wegwehen, verschwinden mit seiner Geistesfracht, sich in Nichts auflösen, als sei es nie gewesen. … und die Gäste des Cafés zerstreuten sich in alle Welt oder wurden gefangen oder wurden getötet oder brachten sich um oder duckten sich und saßen noch im Café und schämten sich des großen Verrats, und wenn sie miteinander sprachen, flüsterten sie..."
Erst mit dem Jahr 1933 und der einsetzenden Vertreibung und Ermordung der Juden wird in vollem Umfang deutlich, wie sehr die Kultur der Weimarer Republik von den Künstlern, Galeristen, Sammlern, Schauspielern, Musikern und Sängern jüdischer Herkunft geprägt waren. Die kurz zuvor noch als Idole verehrt worden waren, flüchteten nach Prag, Wien, Zürich und Paris. Treffpunkte und Durchgangslager waren dort wieder die Kabaretts und Literatencafés. Ihre Wege führten sie dann weiter in die Hafenbars von Amsterdam oder Marseille. Einige sahen sich im New Yorker Emigranten Café "Lime Light" in Greenwich Village wieder. Manes Sperber resümierte: "Die Geschichte der Exilierten ist zu einem guten Teil eine Geschichte der Caféhäuser."
Rund dreitausend Theaterkünstler mussten aus Nazideutschland emigrieren. In 50 Ländern fanden sie Asyl und in rund 20 dieser Länder gaben sie ihre literarisch-musikalischen Abende in Cafés, Kellerbars und kleinen Theatern. Sogar in Shanghai, wohin es etwa 18.000 jüdische Emigranten verschlagen hat, fanden deutschsprachige Abende statt. So hat sich das Chanson-Café-Europa unfreiwillig auch über die Welt verteilt.